Wir erinnern an August Kaiser
August Kaiser, geboren am 7.2.1889 in Dülken (heute ein Stadtteil von Viersen) bei Mönchengladbach, gestorben am 24. Januar 1944 im Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen .
August Kaiser, geboren am 7.2.1889 in Dülken (heute ein Stadtteil von Viersen) bei Mönchengladbach, gestorben am 24. Januar 1944 im Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen .
August Kaiser, geboren am 7.2.1889 in Dülken (heute ein Stadtteil von Viersen) bei Mönchengladbach, Ingenieur von Beruf, letzter freiwilliger Wohnort vor Beginn der NS-Verfolgung in Krefeld-Uerdingen, Schützenstraße 17.
Verhaftung durch die Polizei Köln am 20. November 1941 wegen „Widernatürlicher Unzucht“. Bis dahin nicht vorbestraft. Am 8. Mai 1942 Verurteilung durch das Landgericht Krefeld wegen homosexueller Kontakte zu der hohen Strafe von 3 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus unter Anrechnung von 4 Monaten U-Haft. Rechnerisches Strafende sollte der 8.7.1945 sein. Anordnung der Entmannung (Kastration). Im Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen ab 27.5.1942. Als „moorunfähig“ eingestuft. Kastration am 23.6.1942 durchgeführt. Tod während der Zuchthaushaft in Remscheid-Lüttringhausen am 24. Januar 1944. Die angebliche Todesursache laut Zuchthauskarteikarte: Herzmuskelschwäche. Laut Sterbeurkunde aus Remscheid: hochgradige allgemeine Körperschwäche.
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August Kaiser kam am 7. Februar 1889 in Dülken (heute Stadtteil von Viersen) zur Welt. Die Eltern waren der kath. Handelsmann Peter Heinrich Kaiser (geboren in Viersen 1850) und dessen Ehefrau Anna Gertrud Kaiser, geb. Derichs (geboren in Erpen, Kreis Heinsberg 1856). Die Eheleute heirateten am 3. Feb. 1882 in Viersen.
Außer dem Sohn August ist noch mindestens ein weiteres Kind der Eheleute bekannt, die am 28. Mai 1900 geborene Tochter Anna Wilhelmine Kaiser, ebenfalls in Dülken geboren.
August Kaiser blieb ledig, seine Schwester Wilhelmine heiratete 1921 in Dülken den Kaufmann Wilhelm Heinrich Wanders. Aus dieser Ehe ging der Sohn Heinrich August Wanders hervor, der in Uerdingen geboren wurde am 23.4.1922. Dieser Neffe von August Kaiser heiratete in Bad Nauheim im Jahr 1957. Ob es noch Nachkommen dieses Familienzweiges gibt, also Großneffen oder Großnichten von August Kaiser, konnte nicht ermittelt werden.
Die Schwester von August Kaiser starb in Bad Nauheim im Jahr 1982, ihr Ehemann, der Schwager von August Kaiser, starb in Freiburg im Breisgau im Jahr 1970.
Wir wissen aus überlieferten Dokumenten das Folgende:
August Kaiser lebte zunächst in Dülken, zog im April 1929 nach Uerdingen in die Niederstr. 39. Im Mai 1932 meldete er sich nach Köln ab, kam aber bereits 1936 von Homberg zurück nach Uerdingen. Er zog danach innerhalb von Uerdingen noch einmal um, und zwar an seinen letzten Wohnort in die Schützenstraße 17, wo er ab 27. März 1937 wohnte. Als Beruf ist Ingenieur verzeichnet.
Die Verfolgung als Homosexueller wegen des Vorwurfes „Widernatürlicher Unzucht“ begann mit der Verhaftung durch die Kölner Polizei am 20.11.1941. Vermerkt wurde, dass beide Elternteile zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben waren. Ebenso festgehalten wurde, dass ihm Fingerabdrücke abgenommen wurden und dass seine Schwester, die zu jenem Zeitpunkt in Köln-Lindenthal lebte, die Identität ihres Bruders bestätigen musste. Sie erfuhr also unmittelbar vom Beginn seiner Verhaftung und der Verfolgung.
Die Nationalsozialisten, seit 1933 an der Macht, haben ihr rassistisches und menschenverachtendes Weltbild in sogenannte „Gesetze“ gegossen: U.a. verschärfen sie mit Wirkung vom 1. Sept. 1935 den noch aus der Kaiserzeit stammenden § 175, der einvernehmliche homosexuelle Kontakte zwischen Männern unter Strafe stellt. Sie erweitern und verschärfen Tatbestände und konstruieren und führen neue ein (so kann bereits Küssen oder wollüstige Blicke und Kontaktaufnahme zu Ermittlungen und Bestrafung führen, ebenso wird erstmals mann-männliche Prostitution strafrechtlich verfolgt), sie vergrößern den Strafrahmen des § 175 von Gefängnis auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren. Sie bespitzeln Treffpunkte von Homosexuellen, führen Razzien durch, legen Listen von namentlich bekannten Homosexuellen an, üben Zensur aus und verbieten Zeitschriften und zerschlagen Vereine. Zudem erzeugt auch die öffentliche Hetze in der gleichgeschalteten Presse und den NS-Propaganda-Medien („Röhm-Putsch“) gegen homosexuelle Männer ein gesellschaftliches Klima der Angst und Einschüchterung. Die Nationalsozialisten nutzen und vertrauen auf und vertiefen die in der Bevölkerung vorhandenen Vorurteile gegenüber Homosexuellen und stempeln sie zu sogenannten „Volksfeinden“. Denunzierungen sind Teil dieses Szenarios, Denunzianten fühlen sich sicher. Ebenso wird der § 175 als Werkzeug zur Verfolgung von katholischen Geistlichen eingesetzt. Die zum Teil „unbequeme“ katholische Kirche soll so in Misskredit gebracht werden. Zur systematischen Verfolgung wird bereits 1934 ein Sonderdezernat Homosexualität bei der Gestapo geschaffen, verschärfend wird im Jahr 1936 eigens die „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“ installiert. Die Zucht von „arischen“ Menschen ist das Ziel. Personen, die nicht zur konsequenten Bevölkerungsvermehrung beitragen, sollen „ausgemerzt“ werden. Mit dem 15. Sept. 1935 wird auch die Spirale der Verfolgung von jüdischen Bürgern durch die erlassenen Nürnberger Rassegesetze weitergedreht.
Zwischen der Verhaftung am 20.11.1941 und der Verurteilung wegen Verstoßes gegen § 175 und § 175a (Homosexuelle Handlungen) vergingen fast 7 Monate, was darauf hindeutet, dass umfangreich von der Polizei ermittelt wurde, mit Sicherheit auch im persönlichen Umfeld. Oftmals waren auch Wohnungsdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Briefen, Postkarten, Adressbüchern, Vernehmungen von anderen Beschuldigten oder Arbeitskollegen usw. Teil der für den Beschuldigten hochgradig belastenden Prozedur.
Am 8. Mai 1942 wurde der nicht vorbestrafte August Kaiser vom Landgericht in Krefeld zu der hohen Strafe von 3 Jahren und 6 Monaten Zuchthaushaft verurteilt. 4 Monate Untersuchungshaft wurde auf die Strafe angerechnet. Die Anrechung der U-Haft auf die Strafdauer wurde meist nur dann gewährt, wenn der „Täter“ geständig war, was den Schluss nahelegt, dass Kaiser homosexuelle Kontakte zugegeben hatte.
Zur Strafverbüßung wurde er von Krefeld am 27. Mai 1942 um 14 Uhr in das Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen überstellt. Bei der dortigen Aufnahme wurde festgestellt, dass er „moorunfähig“ war, d.h. er wurde nicht in eines der Moorlager im Emsland zur Strafverbüßung deportiert, um im Moor Schwerstarbeit leisten zu müssen. Der Begutachtende, wahrscheinlich ein Arzt, stellte demnach fest, dass Kaiser schwerste körperliche Arbeit nicht leisten konnte.
Ein Beitrag von Armin Breidenbach, Remscheid:
Das Zuchthaus in Remscheid-Lüttringhausen, das über eine Belegungsfähigkeit für 553 Häftlinge verfügte, war wie alle Strafanstalten des „Dritten Reiches“ mehr oder weniger ständig überbelegt. Wieviele Häftlinge in der Zeit von Januar 1933 bis Mai 1945 in jener Strafanstalt einsaßen, ist zum gegenwärtigen Forschungsstand nicht genau bekannt. Allerdings kann an Hand der heute noch existierenden, allerdings nicht vollständigen „Gefangenenkartei der Strafanstalt Remscheid-Lüttringhausen zur NS-Zeit“ geschätzt werden, dass dort in den Jahren 1933 bis 1945 insgesamt etwa 10.000 Häftlinge inhaftiert waren. Neben kriminellen Häftlingen waren im Zuchthaus Lüttringhausen vor allem auch Häftlinge eingekerkert, die aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen oder wegen Verstoßes gegen § 175 Reichsstrafgesetzbuch verurteilt worden waren.
Nach derzeitigem Forschungsstand waren lt. Rainer Hoffschildt, Hannover, im Zuchthaus Lüttringhausen etwa 25 Männer inhaftiert, die wegen Verstoßes gegen den § 175 Reichsstrafgesetzbuch zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden waren und diese dann im Zuchthaus Lüttringhausen verbüßen mussten. Zahlreiche Häftlinge wurden nach Strafverbüßung im Zuchthaus Lüttringhausen aber nicht freigelassen, sondern in Konzentrationslager überstellt, wo viele von ihnen umkamen bzw. ermordet wurden. Im Zeitraum vom 1. Januar 1933 bis zur Befreiung am 15. April 1945 durch amerikanische Truppen starben im Zuchthaus Lüttringhausen aufgrund der damaligen Haftbedingungen (unter anderem harte und lange Arbeit bei gleichzeitig unzureichender Ernährung) insgesamt 111 Häftlinge, darunter auch einige homosexuelle Häftlinge.
Bei der Aufnahme im Zuchthaus gab Kaiser als nächste Angehörige seine Schwester Wilhelmine Wanders in Köln an. Außerdem wird aus dem erhaltenen Dokument aus dem Zuchthaus erkennbar, dass er dorthin bereits eingeliefert wurde mit dem Vermerk „Entmannung angeordnet“. Vermerkt wurde später handschriftlich „Am 23.6.42 entmannt“. Wahrscheinlich ist, dass die Kastration im Bezirkskrankenhaus des Gefängnisses Düsseldorf-Derendorf durchgeführt wurde. Die Akten zur Kastration sind nicht überliefert.
Obwohl die Strafakten zur Verurteilung nicht erhalten sind, ist wahrscheinlich, dass er wegen seiner homosexuellern Kontakte als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher wegen widernatürlicher Unzucht nach § 175 StGB“ bezeichnet, abgestempelt und ausgegrenzt wurde – zumindest wurde diese Formulierung in vielen anderen Strafakten, bei denen es um die Verfolgung und Verurteilung von Homosexuellen ging, von der NS-Justiz in den Urteilsbegründungen verwandt.
Die Einstufung durch die NS-Justiz als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ machte die Verhängung der gefürchteten Sicherungsverwahrung nach voller Strafverbüßung möglich und wahrscheinlich. Diese dauerhafte Sicherungsverwahrung kam in sehr vielen Fällen einem Todesurteil für die Betroffenen gleich, da viele von ihnen nach der verbüßten Haft in ein KZ deportiert wurden und dort zu Tode kamen.
Kaum bekannt ist bis heute, dass zahlreiche Homosexuelle kastriert wurden, denn die NS-Justiz stellte in Aussicht, dass bei Zustimmung des Angeklagten oder Verurteilten zu einer sogenannten „freiwilligen“ Kastration die Sicherungsverwahrung nicht ausgesprochen werden sollte. Die dahinterliegende Grundhaltung der NS-Justiz war, „dass er es der Kastration zu verdanken hat, dass er überhaupt wieder in die Volksgemeinschaft entlassen wird“[1].
Eine Kastration, d.h. ein operativer Eingriff mit Entfernung der Hoden ist ein sehr schwerwiegender Eingriff in die körperliche und seelische Unversehrtheit – umso mehr, wenn sie unter Zwang oder Nötigung durchgesetzt wurde. Kastration ändert nicht die Triebrichtung – aus einem heterosexuellen Mann wird also kein homosexueller oder umgekehrt. Auch bei der von einer Kastration zu unterscheidenden Sterilisation ändert sich die Triebrichtung nicht. Im Gegensatz zur Kastration werden bei einer Sterilisation ausschließlich die Samenleiter durchtrennt und damit die beabsichtigte Zeugungsunfähigkeit herbeigeführt. Die Sterilisation ist körperlich im Vergleich zu einer Kastration ein medizinisch einfacherer Eingriff, meist gehen damit keine Auswirkungen auf die Libido einher.
Sowohl Kastration als auch Sterilisation wurden in der NS-Zeit gegen den Willen und oft ohne Zustimmung der Betroffenen oder ihrer Erziehungsberechtigten zwangsweise durchgeführt. Insbesondere Menschen, die von den Nationalsozialisten als „schwachsinnig“ oder „erbkrank“ eingestuft und verfolgt wurden, waren oft Opfer dieser menschenfeindlichen Praxis. Viele wurden in Heil- und Pflegeanstalten ermordet.
Die Kastration – wenn sie nach der Pubertät erfolgt – hat beim erwachsenen Mann viele mögliche körperliche und psychische Folgen und hinterlässt Schädigungen, u.a.: Antriebsarmut, eine Veränderung der Behaarung (Verlust der Körperbehaarung), Abnahme der Libido (Geschlechtstrieb) oder Impotenz, tiefgreifende Persönlichkeitsveränderungen, psychische Erkrankung bis hin zu schweren Depressionen, Osteoporose, möglicherweise Fettleibigkeit mit Stoffwechselstörungen, Entgleisungen des Fettstoffwechsels, des Zuckerstoffwechsels mit folgender Zuckerkrankheit sowie arterielle Hypertonie (Bluthochdruck). Eine „Verweiblichung“ des sichtbaren Körperschemas ist beim Mann die Folge.
Der Ingenieur August Kaiser war zum Zeitpunkt seiner Verurteilung vor dem Landgericht Krefeld am 8. Mai 1942 ein lebenstüchtiger, gebildeter Mann von 53 Jahren. Er wusste, dass ihm keine wirklich freie Entscheidung blieb: Entweder Haftverbüßung und anschließende Sicherungsverwahrung, mit der Folge, wahrscheinlich in ein KZ deportiert zu werden, falls er sich nicht „freiwillig“ zur Kastration bereit erklärte oder als Alternative Haftverbüßung und anschließende wahrscheinliche Entlassung, wenn er der Kastration zustimmte. (Wir wissen heute, dass diese in Aussicht gestellte Entlassung auch in zahlreichen Fällen auch dann nicht gewährt wurde, wenn die Kastration erfolgt war.)
Am 23. Juni 1942, also bereits im ersten Monat nach Haftbeginn, wurde Kaiser kastriert. Doch trotz dieses massiven Eingriffes in die körperliche Unversehrtheit erfüllte sich die Hoffnung nicht, nach Verbüßung der Zuchthaushaft entlassen zu werden. August Kaiser starb im Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen am 24. Januar 1944, zwei abweichende Todesursachen wurden vermerkt. Zum einen hieß es im Sterbebuch des Standesamtes Remscheid: „Hochgradige allgemeine Körperschwäche“, zum anderen findet sich auf der Zuchthauskarteikarte der Eintrag: „infolge Herzmuskelschwäche verstorben“.
Bedenkt man, dass die Kastration als eine von vielen möglichen nachteiligen Folgewirkung die Entwicklung von Bluthochdruck haben konnte und damit eine deutlich lebensverkürzende Wirkung erzeugen konnte, so ist legitim zu sagen: Die Ärzte, die die Kastration durchgeführt hatten und diejenigen, die die Maßnahme angeordnet hatten, haben zum frühen Tod von August Kaiser beigetragen.
In einer demokratischen Ordnung würde wahrscheinlich gegen diejenigen, die die Kastration in Bezug zu einer möglichen Nichteinweisung in ein Konzentrationslager gesetzt hätten, wegen Nötigung etc. ermittelt, die behandelnden Mediziner wegen Körperverletzung belangt werden. In der NS-Diktatur hatten die Genannten keine negativen Konsequenzen zu befürchten. Sie setzten den Willen der Herrschenden um. Auch nach 1945 wurden nur wenige der vielen Täter zur Verantwortung gezogen. Viele Ärzte, die im Nationalsozialismus an den menschenverachtenden medizinischen Eingriffen beteiligt waren, praktizierten nach 1945 unbehelligt weiter. Viele Täter, nicht nur unter Richtern und Staatsanwälten, waren in der BRD bis zu ihrem „regulären“ Ausscheiden aus dem Beruf tätig. Für viele blieb ihr rassistisches und menschenverachtendes und verantwortungsloses Handeln ohne Konsequenzen.
Zu August Kaiser ist Weiteres nicht bekannt.
[1] Zitat aus: Das sind Volksfeinde. Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945, Herausgeber: Centrum Schwule Geschichte, Köln.
August Kaiser war einer von mehreren Tausend Männern, die während der NS-Zeit wegen Homosexualität verfolgt wurden. Verhöre, Folterungen, Kastrationen („freiwillig“), Gefängnis, Zuchthaus und KZ-Deportationen oder Verbringung in „Euthanasie“-Anstalten oder den sozialen Tod im beruflichen und privaten Umfeld durch ein „Outing“ im Zusammenhang mit der juristischen Verfolgung überlebten viele nicht. Diejenigen Homosexuellen, die die NS-Zeit überlebten, sei es im KZ oder anderswo, wurden nach dem 8. Mai 1945 weiter verfolgt. Der Strafrechtsparagraph 175 bestand in Westdeutschland in der verschärften Nazifassung bis 1969 (!). Trotz heftigster Attacken von Seiten der katholischen Kirche leitete 1968 der damalige Justizminister der BRD und spätere Bundespräsident Heinemann die Reform dieses Paragraphen ein. Nichtsdestotrotz wurden bis heute Anträge von Homosexuellen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, das die Adenauer-Regierung zu verantworten hatte, immer abgelehnt, denn sie galten nach damaliger Anschauung als „rechtmäßig“ verurteilte Straftäter. Das vorurteilsbehaftete Gedanken“gut“ der Kaiserzeit und die rassistischen Einstellungen, Vorurteile und Handlungen der Nationalsozialisten in Bezug auf das Thema Homosexualität wurden in der BRD zur Handlungsgrundlage gegenüber Homosexuellen. In West-Deutschland gab es bis 1969 jegliche Art der Verfolgung, die es bereits im Nationalsozialismus gegeben hatte – außer Deportierungen in Konzentrationslager.
Erst seit 1994 – als Folge der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung -und aufgrund des Engagements der Schwulen- und Lesbenbewegung werden homosexuelle Männer in Deutschland nicht mehr strafrechtlich verfolgt: Der Paragraph 175 StGB wurde gestrichen. Im Jahr 2002 hob der Bundestag die Urteile auf, die während der NS-Zeit mittels des § 175/175a gefällt wurden. Erst seit 2002 zählt August Kaiser nicht mehr als Straftäter. Er wurde zu Unrecht verurteilt. Erst im Sommer 2017 wurden diejenigen Urteile aufgehoben, die zwischen 1945 und 1969 nach den Paragraphen 175/175a in der Nazifassung gefällt worden waren und diejenigen Urteile, die nach der Strafrechtsreform zwischen 1969 und 1994 gefällt worden waren. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit den Urteilen nach 1945 schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Aufhebung der Urteile kam und kommt für die meisten Betroffenen, die inzwischen verstarben, und für deren Angehörige, Familien und Freunde (zu) spät. Erst im Sommer 2018 hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Fehler des Staates anerkannt und sich entschuldigt.
Am letzten Wohnort von August Kaiser, Schützenstr. 17 in Krefeld-Uerdingen, liegt seit 14. November 2019 ein „Stolperstein gegen das Vergessen“ zur Würdigung und Erinnerung. Der Stein wurde von dem Künstler und Schöpfer der Stolpersteine, Gunter Demnig, verlegt. Am selben Tag wurde auch für den Elektromonteur Carl Becker (Duisburg 1885 – Dachau 1953), der ebenfalls als Homosexueller verfolgt worden war, in der Dreikönigenstr. 29 in Krefeld ein Stolperstein verlegt. Bereits im Jahr 2017 wurde in der Königstr. 45 für den Schmied Peter Jöcken ein Stolperstein verlegt und im Februar 2019 folgte der Stolperstein für den Schneider Johannes Winkels vor der Zentrale der Volksbank Krefeld in der St. Anton-Straße 68.
Das ursprüngliche Wohnhaus von Kaiser in der Schützenstraße 17 existiert noch. Es überstand die Kriegseinwirkungen in Krefeld.
Initiative zum Stolperstein, Forschung/Recherchen und Bericht zum Leben von Carl Becker stammen von Jürgen Wenke, Diplom-Psychologe, Bochum. Weitere Stolpersteine in Bochum (12), Dortmund (1), Düsseldorf (1), Duisburg (5), Essen (1), Gelsenkirchen (4), Hattingen (1), Jena (1), Krefeld (3), Kreuztal-Kredenbach/Kreis Siegen (1), Remscheid (3), Solingen (1), Trier (3), Velbert (1), Witten (2) und Wuppertal (2) zur Erinnerung an verfolgte Homosexuelle sind bereits verlegt worden, weitere Stolpersteine werden folgen. Die Patenschaft für die Stolpersteine zur Erinnerung an Carl Becker und August Kaiser hat das Gymnasium Fabritianum in Krefeld übernommen. Die Finanzierung der Stolpersteine hat die Stadt Krefeld im Rahmen des „Roze Jaar Venlo-Krefeld“ übernommen. Gedankt sei dem Gymnasium als Paten, für die Forschungsunterstützung gilt der Dank dem Stadtarchiv in Krefeld, dem Verein Villa Merländer e.V., den Archiven in Remscheid, Köln, Kreis Viersen, Bad Nauheim sowie dem Landesarchiv Rheinland in Duisburg und dem Arolsen Archiv, ebenso Rainer Hoffschildt aus Hannover und Armin Breidenbach in Remscheid, sowie zahlreichen Personen und Institutionen, die die Forschung unterstützt haben.
Ebenso gedankt sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Villa Merländer in Krefeld für die Organisation der Verlegung der Stolpersteine.
Carl Becker kam am 13. Februar 1885 in Neumühl-Schmidthorst (heute Duisburg) zur Welt. Die Eltern waren der damalige Bahnwärter Friedrich Wilhelm Becker (geboren Keppeln/Kreis Kleve 15.10.1841, gestorben in Schmidthorst 4.8.1909) und dessen Ehefrau Katharina Becker, geb. Tenrahm (geb. 27.9. 1853, gestorben in Budberg (Moers), zum Zeitpunkt der Heirat des Sohnes Carl im Jahr 1914 lebte die Witwe noch.) Ob Carl Becker Geschwister hatte, konnte nicht ermittelt werden. Zunächst lebte Carl Becker mit den Eltern in Schmidthorst (Duisburg).
Am 5. Mai 1914 heirateten in Moers der Elektromonteur Carl Becker und Anna Elisabeth Giesen (geb. in Budberg/Kreis Moers am 16. Februar 1883, gestorben in der Stadt Dachau am 27.11.1947). Zur Herkunftsfamilie Tenrahm (der Mutter von Carl) scheint ein gutes Verhältnis existiert zu haben, denn zwei junge Männer (24 und 26 Jahre) der Familie Tenrahm waren Trauzeugen.
Von 1916 bis 1939 lebten die Eheleute in Schaephuysen (damals Kreis Moers, heute zugehörig zur Gemeinde Rheurdt). Dort wurde am 16.8.1922 das einzige Kind, Karl-Heinz Becker, geboren. Am 30. Dezember 1939 zog die dreiköpfige Familie Becker nach Krefeld in die Dreikönigenstraße 29. Dieses größere Mietshaus spielte bei der kommenden Verfolgung von Carl Becker durch die Gestapo zunächst eine wichtige Rolle.
Am 18. August 1940 unterschrieb einer der Mieter im Hause Dreikönigenstr. 29, Herr X., ein Protokoll, das der NSDAP-Parteigenosse, Ortsgruppenleiter in Krefeld-Schinkenplatz, Herr F., nach Angaben des X. verfasst hatte. Herr X. gab an und unterschrieb das Folgende:
(Anmerkungen: Name X: anonymisiert, um ihm nicht eine Würdigung durch Nennung seines Klarnamens zu Teil werden zu lassen. J.W.)
„Am 11.8. abends um 10.30 Uhr benutzte ich die Toilette auf dem Hof des Hauses Dreikönigenstraße 29. Ich selbst wohne in der 2. Etage, und ist seit 14 Tagen auf dieser Etage die Toilette verstopft. K. Becker der Eigentümer des Hauses ist, hatte vor mir die Toilette benutzt und ich grüßte mit dem deutschen Gruß „Heil Hitler“. K. Becker erwiderte hierauf „guten Abend“. Meine Antwort hierauf war, der deutsche Gruß sei: „“Heil Hitler“. Becker meinte dann: Hitler kann mir was Driete.
(Anmerkung: Driete=klebriger Dreck, in diesem Zusammenhang könnte der Satz in etwa so gemeint sei: Hitler, der Dreckskerl, kann mich mal …)
Ich fühle mich nun verpflichtet, dieses der Ortsgruppe mitzuteilen, um derartige Leute eines Besseren zu belehren. Frau M. (anonymisiert, J.W.), welche gerade das Fenster in Ihrer Wohnung schloss, muss dieses mit angehört haben, denn sie gab zu gehört zu haben, dass ich erwähnte, der deutsche Gruß sei „Heil Hitler“, alles andere will sie nicht wissen.“
Mit dieser Denunzierung trat der Hausbewohner, Herr X., eine Ermittlung gegen Carl Becker los. Das Protokoll der Aussage des X. wurde weitergeleitetet an die NSDAP-Kreisleitung in Krefeld-Kempen und dann auch an die Geheime Staatspolizeileitstelle Düsseldorf, Außenstelle in Krefeld, Goethestraße 108. Die Gestapo nahm die Ermittlungen auf und legte eine „Akte Becker“ an. Zusammen mit dem Protokoll verfasste der Parteigenosse F. eine eigene Stellungnahme zu Becker und reicht diese ebenfalls an die NSDAP-Kreisleitung weiter. Er schreibt u.a. das Folgende:
Der NSDAP-Mann Flocken verschärfte die Denunziation des Herrn X. gegen Becker also noch dadurch zusätzlich, dass er das Gerücht der „homosexuellen Veranlagung“ von Carl Becker aus eigenem Antrieb in seinen Bericht schrieb. Die ganze Sache ging dann wie folgt weiter:
Zunächst wurde am 19. September 1940 Frau M., ebenfalls Mietpartei im Hause von Carl Becker, als Zeugin von der Gestapo vernommen. Sie sagte aus, nicht gehört zu haben, dass Becker gesagt hätte „Hitler kann mich mal driete.“ Sie bestätigte lediglich den Vorfall auf dem Hof zwischen Becker und X., bestätigte aber nicht die behauptete Bemerkung über Hitler.
Außerdem wurde am selben Tag nochmals Herr X. befragt, der nunmehr Teile seiner eigentlichen Motivation auf Nachfrage preisgab und das Folgende unterschrieb:
Krefeld, den 19. September 1940
Auf Vorladung erscheint der Elektromonteur X., geb. 1.10.1901 in Krefeld, wohnhaft in Krefeld, Dreikönigenstr. 20 und erklärt: Der Grund meiner Vernehmung wurde mir bekannt gegeben. Seit längerer Zeit habe ich mit Becker Mietstreitigkeiten. Wegen diesen Mietstreitigkeiten habe ich am 25.9.1940 vor dem Amtsgericht Krefeld Termin. Ich muss auch heute bei meinen Angaben bleiben, die ich in meiner Aussage vom 18.8.1940 gemacht habe. Weitere Angaben kann ich auch heute zur Sache nicht machen.
Außerdem verhörte die Gestapo an diesem Tag den Hauseigentümer Carl Becker und füllte einen Personenvordruck zu Becker mit dessen Angaben aus, ebenso wurde ein schriftliches Protokoll zur Sache verfasst.
Zu seiner Person gab Becker an:
„Von meinem 6. bis 14. Lebensjahr habe ich die Volksschule in Schmidthorst bei Hamborn besucht. Nach der Schulentlassung habe ich Maschinenschlosser auf der Gewerkschaft Deutscher Kaiser in Hamborn drei Jahre erlernt. Nach Beendigung meiner Lehrzeit bin ich noch 1 ½ Jahr auf der Gewerkschaft als Maschinenschlosser tätig gewesen. Bis zum Jahr 1925 war ich dann noch bei verschiedenen Firmen als Maschinenschlosser tätig. Von 1925 bis 1939 war ich bei verschiedenen Firmen als Elektromonteur tätig gewesen. Seit 1939 bin ich als Elektromonteur bei dem Treibstoffwerk Rheinpreußen in Moers-Meerbeck.“
Er äußerte sich dann auch zu der Sache. Wörtlich heißt es:
„Der Grund meiner Vernehmung wurde mir bekannt gegeben. Am 11.8.1940 benutzte ich die Toilette im Hof. Als ich die Toilettentür aufmachte, stand eine Person vor mir. Wegen der Dunkelheit konnte ich nicht erkennen, ob es X. war. Ich sagte zu der Person guten Abend. Hierauf erwiderte die Person „Heil Hitler“. Ich habe hierauf nichts erwidert. Als ich schon weiterging rief mir die Person nach das heißt „Heil Hitler“. Hier auf habe ich nichts erwidert. Als die Person zum zweiten Mal „Heil Hitler“ sagte, erkannte ich an der Stimme, dass es X. war. Wenn ich dieses früher gemerkt hätte, hätte ich auch nicht guten Abend zu der Person gesagt, weil ich X. schon seit Monaten nicht grüße, da wir schön längere Zeit in Mietstreitigkeiten leben. Ich muß entschieden bestreiten die Äußerung getan zu haben die X. in seiner Aussage angegeben hat. Weil ich mit X. schon seit langer Zeit in Mietstreitigkeiten lebe, versucht er mir auf alle mögliche Art und Weise einen auszuwischen. Z.Zt. läuft gegen X. beim Amtsgericht in Krefeld eine Räumungsklage unter dem Aktenzeichen 1 f C 296/40. Ich muß annehmen, das X. die Anzeige gegen mich nur aus Gehässigkeit erstattet hat.
Ich versichere nochmals, dass ich die in der Anzeige angegebenen Äußerungen nicht getan habe.“
Und dann heißt es weiter im Original:
Unmittelbar nach den von der Gestapo protokollierten Aussagen von Carl Becker, Herrn X. und der Zeugin M. verfasste der Gestapomann und Kriminaloberassistent Homberg noch einen kurzen eigenen Bericht. Darin ist zu lesen, es sei zweifelhaft, ob Becker die Äußerungen (abfällig über Hitler zu sprechen) getan habe. Auch auf Beckers Äußerungen zu homosexuellen Kontakten ging er ein. Es heißt im Wortlaut:
Die Gestapo Krefeld leitete die Sache dann weiter an den Oberstaatsanwalt in Krefeld, der wiederum teilte bereits am 21. Sept. 1940 der Gestapo Krefeld mit, dass die Sache an den Oberstaatsanwalt Düsseldorf als Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht in Düsseldorf weitergeleitet worden sei.
Die Anschuldigungen von Herrn X. gegen Becker führten nicht zu einer Anklage wegen Nichtzeigen des Hitlergrußes. Das ganze Verfahren wurde Ende September 1940 eingestellt.
„Ein Verstoß gegen das H.G. (Anmerkung: Hitlergesetz) ist nicht nachweisbar. Die Bekundung des verfeindeten X. reicht zu Überführung nicht aus. Einstellung.“
Dennoch wird deutlich: Die Gestapo (ebenso Herr X.) hätte ihn gerne in dieser Sache überführt, die Gestapo hätte ihm auch gerne nachgewiesen, dass er sich „homosexuell betätigte“. Insofern zeigte die Denunzierung Wirkung: Becker war nunmehr im Fokus der Gestapo.
Dagegen legen die Dokumente den Erfolg der Räumungsklage nahe, die Becker vor dem Amtsgericht in Krefeld gegen den Mieter X angestrengt hatte, denn nachweislich zog X. mit Ehefrau und Sohn kurze Zeit später, nämlich im Januar 1941 aus dem Hause Dreikönigenstr. 29, aus. Dort hatte er seit 1932 gewohnt.
Halten wir fest:
Im nationalsozialistische Unrechtssystem zeigten sich nach über sieben Jahren der Terrorherrschaft im Jahr 1940 negative Auswirkungen in allen denkbaren Bereichen: Deutschland führte Krieg gegen Polen, Frankreich, Belgien, usw. – gegen die zivilisierte Welt. Der Angriffskrieg gegen die Sowjetunion stand bevor. Auch im Innern des Staates führten die Nationalsozialisten einen Kampf z.B. gegen vermeintliche und tatsächliche Gegner, gegen Juden, gegen Homosexuelle, gegen Kriegsdienstverweigerer wie die Zeugen Jehovas, gegen Frauen, die eine Abtreibung durchführen wollten und auch gegen die Ärzte, die dabei halfen. Die Liste der negativen Veränderungen wurde aus heutiger Sicht endlos.
Es gab fatale Auswirkungen bis in die persönlichsten Bereiche des täglichen Lebens. Die negativen gesellschaftlichen Veränderungen hatten auch vielfältige Auswirkungen im Verhältnis des Staats zu seinen Bürgern, u.a. förderte die Diktatur auch Denunziantentum wie das oben Dargestellte.
So traf es Carl Becker, der mit einem Mieter seines Hauses (laut Unterlagen wohnten dort insgesamt 11 Mietparteien) in einem privaten Rechtsstreit lag. Durch die folgenden Ermittlungen wegen des tatsächlichen oder vermeintlichen Nichtzeigens des Hitlergrußes und wegen einer tatsächlichen oder vermeintlichen Hitlerbeleidigung geriet Carl Becker in den Fokus der Gestapo und der gleichgeschalteten Justiz. Dazu kam eine frühere Verurteilung und eine verbüßte Strafe wegen homosexueller Kontakte erneut in den Fokus der NSDAP und der Gestapo. Zunächst schien es, als sei die Sache für Becker halbwegs gut ausgegangen: Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nach der Denunzierung durch den Mieter X. wurden eingestellt. (Was allerdings nicht bedeutete, dass die Gestapo wg. der homosexuellen Kontakte Becker nicht mehr im Visier hatte.)
Außerdem endeten die Streitigkeiten mit dem Mieter X. Dieser zog kurze Zeit nach dem Mietrechtsstreit aus dem Haus in der Dreikönigenstraße aus.
Schien nach dem Auszug des Mieters X. und dem Ende der Ermittlungen gegen Becker am Ende des Jahres 1940 endlich ein gewisses Maß an „Normalität“ Einzug gehalten zu haben im Hause Becker – soweit es überhaupt möglich ist, in Zusammenhang mit den oben genannten Vorgängen in einem diktatorischen System von „Normalität“ zu sprechen – so war es mit dieser trügerischen „Normalität“ bereits am 8.4.1941 schlagartig vorbei. Die überlieferte Meldekarteikarte der Stadt Krefeld von Carl Becker enthält den folgenden Hinweis, wie es weiterging:
Widernatürliche Unzucht
Untersuchungshaft seit 8.4.41 Krefeld
Moers
Becker war demnach erneut verhaftet worden, polizeiliche Ermittlungen wegen homosexueller Kontakte waren der Grund für die U-Haft. Was Becker genau vorgeworfen wurde, ist nicht bekannt, da Verfahrens- und Strafakten weder von diesem zweiten Verfahren noch vom ersten Verfahren von 1938 wegen homosexueller Kontakte überliefert sind. Aber die genannte Meldekarte gibt über das Ergebnis des zweiten Verfahrens Auskunft. Es findet sich unter der Meldekartenrubrik „Akten- und Strafhinweise“ der Eintrag:
1 Jahr 6 Monate 25/11 41
Das rechnerische Strafende (es handelte sich um eine Zuchthausstrafe, wie aus dem Eintrag der Haftanstalt Düsseldorf-Derendorf hervorgeht) wäre demnach der 25. Mai 1943 gewesen, doch die Freilassung erfolgte nicht, denn es ist durch Dokumente belegt, dass er von der Polizei Krefeld am 27.5.1943 festgenommen wurde und am selben Tag in das Krankenhaus der Haftanstalt Düsseldorf-Derendorf gebracht wurde durch die Polizeisanitätsstelle Düsseldorf. Warum er in das Haftkrankenhaus nach Düsseldorf gebracht wurde, ist nicht geklärt. Es ist zu vermuten, dass sich Becker möglicherweise gegen die unmittelbar nach Haftende vollzogene erneute Polizeifestnahme gewehrt hatte und dabei verletzt worden war.
Die Tatsache, dass Becker bereits am 8. April 1941 in U-Haft genommen worden war und trotz einer Verurteilung zu 1 Jahr 6 Monate Haft erst am 25. Mai 1943 am rechnerischen Ende der Haft angekommen war, legt nahe, dass die lange U-Haft von 8. April 1941 bis zur Verurteilung am 25. November 1941 nicht auf die Strafverbüßungsdauer angerechnet wurde. Dies wiederum geschah dann, wenn ein Angeklagter im Prozess nicht geständig war. Nur bei einem Geständnis wurde in der Regel die Untersuchungshaft angerechnet.
Zur Erinnerung: Bereits im Gestapo-Verhör am 19. September 1940 hatte Becker mitgeteilt, er sei nicht homosexuell, die Straftat von 1938 sei mehr ein Scherz gewesen.
Wenn auch bezüglich dessen, was letztlich zur zweifachen Verurteilung/Haft in den Jahren 1938 und 1941 wegen homosexueller Kontakte führte, keine Klarheit zu erlangen ist, so ist dagegen dokumentiert, dass Becker am 21.6.1943 nach einem mehr als einem Monat dauernden Aufenthalt im dortigen Haftkrankenhaus wieder in die Polizeihaft zurücktransportiert wurde. Und von dort wurde er unmittelbar durch die Kripo Düsseldorf ohne Beschluss durch ein Gericht in das Konzentrationslager Dachau bei München deportiert.
Der Rechtsstaat war seit 1933 in Deutschland abgeschafft, Gewaltenteilung im Staat gab es nicht. Es herrschte die NSDAP mit ihren zahllosen Unterorganisationen in allen Bereichen der Gesellschaft. Die polizeiliche Maßnahme der Vorbeugehaft war Folge eines Erlasses des SS-Reichsführers und Chefs der deutschen Polizei, Heinrich Himmler. Der hatte dazu am 12. Juli 1940 pauschal bestimmt:
„Ich ersuche, in Zukunft Homosexuelle, die mehr als einen Partner verführt haben, nach der Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche Vorbeugehaft zu nehmen.“
Dieser Befehl von Himmler, einem der maßgeblichen Täter des NS-Regimes und einem Fanatiker der Homosexuellenverfolgung, hatte zur Folge, dass diejenigen, die die verhängten Haftstrafen voll verbüßt hatten, unmittelbar am Strafhaftende in ein KZ deportiert wurden. Als „Vorbeugehäftlinge“ kamen sie meist nicht mehr in Freiheit, sondern zu Tode. Sie starben durch Erschießung bei angeblichen oder von der SS inszenierten Fluchtversuchen oder durch Folter oder langsame Auszehrung aufgrund Unterernährung bei katastrophalen hygienischen Bedingungen verbunden mit schwerster Sklavenarbeit. Dieser Weg war nunmehr für Carl Becker vorbestimmt.
Halten wir fest: Spätestens seit dem Himmler-Erlass wurden Homosexuelle doppelt bestraft, zunächst durch volle Verbüßung der von den nationalsozialistischen Richtern verhängten hohen Strafen in Gefängnis, Zuchthaus und Zwangsarbeitslagern, dann durch erneute Festnahme durch die Polizei, die die Vorbeugehaft vornahm und die Männer in ein Konzentrationslager deportierte. Dies waren meist die Lager Sachsenhausen, Buchenwald, Dachau, Neuengamme, usw.
Diesen Weg musste auch Carl Becker gehen, seine Ankunft in Dachau ist auf der Schreibstubenkarte aus Dachau für den 23. Juli 1943 dokumentiert, er wurde der Häftling Nr. 49907, PSV (Polizeiliche Sicherungsverwahrung). In einem anderen Dokument des KZ Dachau wurde vermerkt: „Haftart: Berufsverbrecher“.
Es ist aufgrund der Zuordnung zur Kategorie der Berufsverbrecher durch die SS (Betreiber der Konzentrationslager) wahrscheinlich, dass Becker bei Einlieferung in das mehr als 600 km von Krefeld entfernte Konzentrationslager Dachau zunächst an seiner Häftlingskleidung für jeden sichtbar einen sogenannten „Grünen Winkel“ tragen musste.
Die Träger eines grünen Winkels, ebenso wie die Träger eines roten Winkels (das waren in der Sichtweise der SS die sogenannten „Politischen Häftlinge“), standen in der Hierarchie der Häftling meist an oberster Stelle, dagegen waren z.B. Juden und Homosexuelle (mit dem rosa Winkel markiert) diejenigen, die am unteren Ende der Häftlingshierarchie standen und deren Überlebenschancen damit gering waren. Sie waren häufiger Schikanen und Gewalt durch die SS ausgesetzt als andere Häftlingsgruppen; aus der Solidarität der Häftlinge untereinander waren sie häufig ausgeschlossen.
Die Nationalsozialisten, seit 1933 an der Macht, haben ihr rassistisches und menschenverachtendes Weltbild in sogenannte „Gesetze“ gegossen: U.a. verschärfen sie mit Wirkung vom 1. Sept. 1935 den noch aus der Kaiserzeit stammenden § 175, der einvernehmliche homosexuelle Kontakte zwischen Männern unter Strafe stellt. Sie erweitern und verschärfen Tatbestände und konstruieren und führen neue ein (so kann bereits Küssen oder wollüstige Blicke und Kontaktaufnahme zu Ermittlungen und Bestrafung führen, ebenso wird erstmals mann-männliche Prostitution strafrechtlich verfolgt), sie vergrößern den Strafrahmen des § 175 von Gefängnis auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren. Sie bespitzeln Treffpunkte von Homosexuellen, führen Razzien durch, legen Listen von namentlich bekannten Homosexuellen an, üben Zensur aus und verbieten Zeitschriften und zerschlagen Vereine. Zudem erzeugt auch die öffentliche Hetze in der gleichgeschalteten Presse und den NS-Propaganda-Medien („Röhm-Putsch“) gegen homosexuelle Männer ein gesellschaftliches Klima der Angst und Einschüchterung. Die Nationalsozialisten nutzen und vertrauen auf und vertiefen die in der Bevölkerung vorhandenen Vorurteile gegenüber Homosexuellen und stempeln sie zu sogenannten „Volksfeinden“. Denunzierungen sind Teil dieses Szenarios, Denunzianten fühlen sich sicher. Ebenso wird der §175 als Werkzeug zur Verfolgung von katholischen Geistlichen eingesetzt. Die zum Teil „unbequeme“ katholische Kirche soll so in Misskredit gebracht werden. Zur systematischen Verfolgung wird bereits 1934 ein Sonderdezernat Homosexualität bei der Gestapo geschaffen, verschärfend wird im Jahr 1936 eigens die „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“ installiert. Die Zucht von „arischen“ Menschen ist das Ziel. Personen, die nicht zur konsequenten Bevölkerungsvermehrung beitragen, sollen „ausgemerzt“ werden. Mit dem 15. Sept. 1935 wird auch die Spirale der Verfolgung von jüdischen Bürgern durch die erlassenen Nürnberger Rassegesetze weitergedreht.
Aus den überlieferten Unterlagen ist bekannt, dass Becker kurze Zeit nach der Ankunft in Dachau bereits zur Zwangsarbeit in das Außenlager Friedrichshafen am Bodensee (Zeppelinwerke, Produktion von kriegswichtigem Material für den Luftkrieg) gebracht wurde, dort war er noch am 8. Mai 1944 und wurde dann zur Zwangsarbeit zum Dachau-Außenlager Saulgau gebracht (ebenso Zeppelin-Werke) – zusammen mit einer großen Zahl anderer Arbeiter. Am 16. Mai 1944 ging es zurück in das Lager Friedrichshafen. Da nach Luftangriffen im Herbst 1944 das Lager Friedrichshafen aufgelöst wurde, ist anzunehmen, dass Becker in das Hauptlager nach Dachau zurückgebracht wurde.
Anfang Februar 1945 wurde im KZ Dachau eine generelle Überprüfung der Häftlingskartei durchgeführt und in zahlreichen Fällen wurden die Haftkategorien geändert. So auch bei Carl Becker. Am 15.2.1945 wurde auf der Schreibstubenkarte die Kategorie „PSV“ gestrichen und ersetzt durch „Homo“. Wie oben beschrieben, war Becker jetzt kein Träger eines grünen Winkels, sondern eines rosa Winkels. Für alle sichtbar war er jetzt als Homosexueller stigmatisiert.
Eine gleichartige Änderung der Häftlingskategorie wurde auch bei dem Häftling Nr. 64942, Ehemann und Vater einer Tochter, Alfred Freudenberg aus Kreuztal-Kredenbach vorgenommen. Auch er war zunächst mit der Kategorie „PSV“ gekennzeichnet, dann folgte am 15.2.1945 die stigmatisierende Kennzeichnung als „Homo“. Alfred Freudenberg starb noch im Februar 1945 im KZ Dachau.
Der Häftling Carl Becker hatte mehr „Glück“ als sein Mithäftling Alfred Freudenberg. Becker erlebte die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau Ende April 1945 durch die Alliierten (Amerikanische Soldaten).
Zunächst blieb Becker im ehem. KZ Dachau – der Gesundheitszustand fast aller befreiten Häftlinge war miserabel. Die in der Regel bis auf die Knochen abgemagerten Häftlinge bedurften der regelmäßigen Hilfe der Amerikaner bei der Wiedererlangung einer Chance auf Gesundung. Sie benötigen geplante Ernährung, Gesundheitsfürsorge usw.
Reisefähig waren die meisten Häftlinge nach der Befreiung nicht – unabhängig davon, dass die meisten Zugverbindungen in Deutschland so weit beschädigt oder zerstört waren, dass eine Reise über eine längere Strecke sehr beschwerlich oder kaum möglich war. Vielfältige Zerstörungen der Infrastruktur im eigenen Land hatten Deutsche in den letzten Kriegstagen auf Befehl der nationalsozialistischen Führung selbst durchgeführt.
Die Militärverwaltung des ehem. KZ Dachau füllte mit den Angaben von Becker bereits am 22. Mai 1945 einen englischsprachigen Fragebogen aus, der Carl Becker unterschrieben wurde. Darin gab er Sachverhalte an, die mit den gefundenen Dokumenten übereinstimmen, aber auch abweichende Angaben sind festzustellen.
Er wurde zur Haft befragt und gab aus der Erinnerung an, von Mai bis Juni 1943 im Gefängnishospital Düsseldorf gewesen zu sein, danach im Juni 1943 bei der Gestapo Düsseldorf inhaftiert gewesen zu sein und ab Juni 1943 bis zur Befreiung im K.L. Dachau inhaftiert gewesen zu sein. Diese Angaben stimmen weitgehend mit denen Eintragungen in Dokumenten überein, die an anderer Stelle in Krefeld und Düsseldorf zur Zeit seiner Verfolgung gemacht worden waren.
Allerdings verschwieg Becker in der Befragung durch die Amerikaner den Grund für die Verhaftungen durch die Nationalsozialisten. Er gab stattdessen an, er habe die durch Vorgesetzte angeordnete Arbeit verweigert. („Refusal of accepting the labour ordered by the labour office“). Ebenso gab er auf die Frage an, ob er jemals wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden sei: „Nein“.
Der überlieferte Fragebogen vom 22. Mai 1945 gibt noch weitere Information preis: Er wolle nach der Entlassung aus der KZ-Haft nach Friedland in Mecklenburg gehen, wo seine Ehefrau nach der Zerstörung von Krefeld derzeit lebe, wo er aber niemand sonst kenne.
Wir wissen also, dass eine Rückkehr nach Krefeld für Becker nicht in Frage kam, denn das Wohnhaus in der Dreikönigenstraße war offensichtlich aufgrund der Kriegseinwirkungen nicht mehr bewohnbar. Aus einem Eintrag in die Krefelder Meldekarte ist bekannt, dass die Ehefrau im Oktober 1945 kurzzeitig noch in Krefeld untergekommen war, allerdings nicht in der Dreikönigenstraße, sondern in der Kölnerstraße 512.
Wie die Eheleute Becker nach Kriegsende wieder zusammenkamen, darüber gibt die städtische Meldekarte aus Dachau Auskunft. Zunächst verblieb Carl Becker auf dem ehemaligen KZ-Gelände, wohnte im Lager-Gebäude Nr. 26. Am 17. April 1946 zog die Ehefrau ebenfalls nach Dachau und zwar auch in das Lager-Gebäude Nr. 26. Am 7. Dezember 1946, also mehr als 1 ½ Jahre nach der Befreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers, konnte Carl Becker (zusammen mit seiner Ehefrau) endlich das ehemalige Lagergelände verlassen. Das Ehepaar blieb in der Stadt Dachau und wohnte zur Miete in der Münchner Straße 56.
Dies war der letzte Lebensort von Elisabeth Becker, die bereits am 27.11.1947 in einem Münchener Krankenhaus im Alter von 64 Jahren verstarb.
Carl Becker überlebte seine Ehefrau. Im Oktober 1951 zog er ein letztes Mal um, wohnte nunmehr in der Neuängerstraße 11 in Dachau. Er starb im Kreiskrankenhaus Dachau am 10. September 1953. Carl Becker wurde 68 Jahre alt. In der Dachauer Meldekarte von Becker wurde vermerkt, dass er seinen ursprünglichen Beruf als Elektromonteur nicht mehr ausübte, sondern als Pfarrmessner (Er war evangelisch) tätig war. Die vielfältigen, schweren Erkrankungen, die in der Sterbeurkunde eingetragen wurden, lassen den Schluss zu, dass der Gesundheitszustand von Carl Becker durch Zuchthaus, Lagerhaft und Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie dauerhaft geschädigt worden war. Derselbe Schluss ist auch daraus zu ziehen, dass Becker nach der Befreiung nicht mehr als Elektromonteur arbeitete, die Meldekarte enthält den Eintrag: „nun Pfarrmessner“, sicherlich im Vergleich zu Monteursarbeit eine körperlich leichte Tätigkeit.
In der BRD galt Becker nach 1945 weiterhin als Straftäter, die Verurteilungen nach §175 aus der NS-Zeit wurden nicht gelöscht. Dadurch wird auch nachvollziehbar, warum er nach der „Befreiung“ versuchte, über die Gründe seiner Verfolgung im Fragebogen zu schweigen. Das gesellschaftliche Klima in Deutschland war in Deutschland bis in die 1980er Jahre hochgradig homosexuellenfeindlich. In den 1950er Jahren lief die juristische Verfolgung von Schwulen weiterhin „auf „Hochtouren“. Die Verurteilungszahlen nach § 175 waren auf ähnlich hohem Stand wie zur Hitlerzeit. In diesem Zusammenhang stehen auch die Menschenrechtsverletzungen aller CDU-geführten Bundesregierungen bis 1969:
Das von der Adenauer-Regierung erlassene Bundesentschädigungsgesetz von 1956 sah keine Rehabilitierung für Menschen vor, die auf Grund ihrer sexuellen Orientierung Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden. Wenn Becker länger gelebt hätte als bis 1953, wäre ein Antrag auf Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes abgelehnt worden mit der Begründung, er wäre ein rechtmäßig verurteilter Straftäter (§175). So wurde in der Regel mit Anträgen von homosexuellen Verfolgten in der BRD verfahren.
Die Eheleute Becker starben in Dachau in Bayern, ohne zu wissen, welchen Weg ihr Sohn Karl-Heinz Becker als Soldat gegangen war. Aus dem Krieg kam er nicht zurück, er wurde vermisst und am vom Amtsgericht Krefeld am 16. Oktober 1954 mit dem festgesetzten Todes-/Vermisstendatum 19. Jan. 1944 für tot erklärt.
Der Denunziant X. (geboren in Krefeld 1901) lebte in seiner Heimatstadt bis zu seinem Tod im Jahr 1981.
Carl Becker war einer von mehreren Tausend Männern, die während der NS-Zeit wegen Homosexualität verfolgt wurden. Verhöre, Folterungen, Kastrationen („freiwillig“), Gefängnis, Zuchthaus und KZ-Deportationen oder Verbringung in Euthanasie-Anstalten oder den sozialen Tod im beruflichen und privaten Umfeld durch ein „Outing“ im Zusammenhang mit der juristischen Verfolgung überlebten viele nicht. Diejenigen Homosexuellen, die die NS-Zeit überlebten, sei es im KZ oder anderswo, wurden nach dem 8. Mai 1945 weiter verfolgt. Der Strafrechtsparagraph 175 bestand in Westdeutschland in der verschärften Nazifassung bis 1969 (!). Trotz heftigster Attacken von Seiten der katholischen Kirche leitete 1968 der damalige Justizminister der BRD und spätere Bundespräsident Heinemann die Reform des Paragraphen ein. Nichtsdestotrotz wurden bis heute Anträge von Homosexuellen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, das die Adenauer-Regierung zu verantworten hatte, immer abgelehnt, denn sie galten nach damaliger Anschauung als „rechtmäßig“ verurteilte Straftäter. Das vorurteilsbehaftete Gedanken“gut“ der Kaiserzeit und die rassistischen Einstellungen, Vorurteile und Handlungen der Nationalsozialisten in Bezug auf das Thema Homosexualität wurden in der BRD zur Handlungsgrundlage gegenüber Homosexuellen. In West-Deutschland gab es bis 1969 jegliche Art der Verfolgung, die es bereits im Nationalsozialismus gegeben hatte – außer Konzentrationslagerdeportierungen.
Erst seit 1994 – als Folge der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung -und aufgrund des Engagements der Schwulen- und Lesbenbewegung werden homosexuelle Männer in Deutschland nicht mehr strafrechtlich verfolgt: Der Paragraph 175 wurde gestrichen. Im Jahr 2002 hob der Bundestag die Urteile auf, die während der NS-Zeit mittels des §175/175a gefällt wurden. Erst seit 2002 zählt Carl Becker nicht mehr als Straftäter. Er wurde zu Unrecht verurteilt. Erst im Sommer 2017 wurden diejenigen Urteile aufgehoben, die zwischen 1945 und 1969 nach den Paragraphen 175/175a in der Nazifassung gefällt worden waren und diejenigen Urteile, die nach der Strafrechtsreform zwischen 1969 und 1994 gefällt worden waren. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit den Urteilen nach 1945 schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Aufhebung der Urteile kam und kommt für die meisten Betroffenen, die inzwischen verstarben, und für deren Angehörige, Familien und Freunde (zu) spät. Erst im Sommer 2018 hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Fehler des Staates anerkannt und sich entschuldigt.