Die Nationalsozialisten haben ihr rassistisches und menschenverachtendes Weltbild in sogenannte „Gesetze“ gegossen: U.a. verschärfen sie mit Wirkung vom 1. Sept. 1935 den noch aus der Kaiserzeit stammenden § 175, der einvernehmliche homosexuelle Kontakte zwischen Männern unter Strafe stellt. Sie erweitern und verschärfen Tatbestände und führen mittels §175a neue ein (so können bereits Küssen oder wollüstige Blicke und Kontaktaufnahme zu Ermittlungen und Bestrafung führen, ebenso wird erstmals mann-männliche Prostitution strafrechtlich verfolgt). Sie vergrößern den Strafrahmen von Gefängnis (Vergehen §175) auf Zuchthaus (Neu: Verbrechen §175a) bis zu 10 Jahren. Sie bespitzeln durch Gestapo und Polizei Treffpunkte von Homosexuellen, führen Razzien durch, legen Listen von namentlich bekannten Homosexuellen an, üben Zensur aus und verbieten Zeitschriften und zerschlagen Vereine. Zudem erzeugt auch die öffentliche Hetze in der gleichgeschalteten Presse und den NS-Propaganda-Medien („Röhm-Putsch“) gegen homosexuelle Männer ein gesellschaftliches Klima der Angst und Einschüchterung. Die Nationalsozialisten nutzen und vertiefen die in der Bevölkerung vorhandenen Vorurteile gegenüber Homosexuellen und stempeln sie zu sogenannten „Volksfeinden“. Denunzierungen sind Teil dieses Szenarios. Denunzianten fühlen sich sicher. Ebenso werden §§175/§175a als Werkzeug zur Verfolgung von katholischen Geistlichen eingesetzt. Die zum Teil „unbequeme“ katholische Kirche soll so in Misskredit gebracht werden. Zur systematischen Verfolgung wird bereits 1934 ein Sonderdezernat Homosexualität bei der Gestapo geschaffen, verschärfend wird im Jahr 1936 zielgerichtet die „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“ installiert. Die Zucht von „arischen“ Menschen ist das Ziel. Personen, die nicht zur konsequenten Bevölkerungsvermehrung beitragen, sollen „ausgemerzt“ werden.
Wir erinnern an Fritz Goltermann und Willi Schlüter
Fritz Goltermann wurde am 21. Dezember 1909 in Bochum, Kronenstraße 63, geboren. Willi Schlüter wurde am 13. Oktober 1917 ebenfalls in Bochum geboren (in der Johanniterstr 23). Beide Männer überlebten die NS-Verfolgung und den Krieg. Fritz Goltermann hatte ab 1948 seinen Lebensmittelpunkt in Pfullingen bei Reutlingen in Baden-Württemberg. 1963 heirateten dort Fritz Goltermann und Liesel Dölle (Jg. 1910). Der Musiker und Klavierlehrer Fritz Goltermann starb am 25. Oktober 1985 in Reutlingen. Seine Ehefrau Liesel Goltermann überlebte ihn um 25 Jahre. Sie starb im Jahr 2010 in Pfullingen.
Willi Schlüter hatte ab 1946 seinen Lebensmittelpunkt in Münster/Westfalen. 1948 heirateten Willi Schlüter und Anneliese Beil (Jg. 1926). Aus der Ehe gingen 3 Kinder hervor. Der ehemalige kaufmännische Angestellte Willi Schlüter starb am 13. Januar 2008 in Münster. Seine Ehefrau starb im Jahr 2009 in Münster.
Das Foto zeigt Fritz Goltermann im Jahr 1934 im Alter von 24 Jahren. Er war zu jenem Zeitpunkt im Rahmen der Wehrpflicht zu einer mehrwöchigen Marineübung einberufen worden.
Von beiden Männern fanden sich die hier abgebildeten Unterschriften in den Originaldokumenten.
Der oben dargestellte Stadtplan-Ausschnitt zeigt Teile der Bochumer Innenstadt im Jahr 1939, die Kronenstraße als Nebenstraße der Oskar-Hoffmann-Straße ist zu erkennen.
Es beginnt in Bochum im Sommer 1936: Sechs Menschen feiern den Geburtstag von Gerhard Krebs in der Kronenstraße 47. Es ist der letzte Geburtstag, den diese Gäste miteinander feiern. Nie wieder kommen diese Menschen in Frieden zusammen…
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Bildarchiv und Zeitdokumente
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Fritz Goltermann (Jg. 1909) und Willi Schlüter (Jg. 1917) wurden in Bochum geboren und lebten dort auch. In der NS-Zeit wurden beide im Jahr 1936 wegen homosexueller Kontakte verfolgt und am 1. Februar 1937 vom Landgericht Bochum verurteilt. Der Bericht (siehe den rosa Button links “Wir erinnern an Fritz Goltermann und Willi Schlüter …”) zeigt ihre Lebens- und Verfolgungswege auf und die Verbindung zwischen beiden. Welche Verbindungen zu anderen Männern bestanden und mit welcher Vehemenz und Systematik Homosexuelle in Bochum in der NS-Zeit verfolgt wurden, versucht der Bericht ebenfalls darzustellen.
Fritz Goltermann und Willi Schlüter waren zwei von mehreren Tausend Männern, die während der NS-Zeit wegen Homosexualität verfolgt wurden. Verhöre, Folterungen, „freiwillige Kastrationen“, Gefängnis, Zuchthaus und KZ-Deportationen oder Verbringung in Euthanasie-Anstalten oder den sozialen Tod im beruflichen und privaten Umfeld durch ein „Outing“ im Zusammenhang mit der juristischen Verfolgung, überlebten viele nicht. Diejenigen Homosexuellen, die die NS-Zeit überlebten, sei es im KZ oder anderswo, wurden nach dem 8. Mai 1945 weiter verfolgt. Die Strafrechtsparagraphen 175/175a führte die Bundesrepublik/Westdeutschland in der verschärften Nazifassung bis 1969 (!) fort. (Die DDR ahndete seit Ende der 1950er Jahre homosexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern nicht mehr.) Trotz heftigster Attacken von Seiten der katholischen Kirche leitete 1968 der damalige Justizminister der BRD und spätere Bundespräsident Heinemann die Reform der Paragraphen ein. Nichtsdestotrotz wurden bis heute Anträge von Homosexuellen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, dass die Adenauer-Regierung zu verantworten hatte, immer abgelehnt, denn sie galten nach damaliger Anschauung als „rechtmäßig“ verurteilte Straftäter. Das vorurteilsbehaftete Gedanken“gut“ der Kaiserzeit und die rassistischen Einstellungen, Vorurteile und Handlungen der Nationalsozialisten in Bezug auf das Thema Homosexualität wurden in der BRD zur Handlungsgrundlage gegenüber Homosexuellen. In Deutschland gab es bis 1969 jegliche Art der Verfolgung, die es bereits im Nationalsozialismus gegeben hatte – außer Konzentrationslagerdeportierungen.
Erst seit 1994 – als Folge der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung -und aufgrund des Engagements der Schwulen- und Lesbenbewegung werden homosexuelle Männer in Deutschland nicht mehr strafrechtlich verfolgt: Der Paragraph 175 wurde gestrichen. Im Jahr 2002 hob der Bundestag die Urteile auf, die während der NS-Zeit mittels des §175/175a gefällt worden waren. Erst seit 2002 zählen Goltermann und Schlüter nicht mehr als Straftäter. Sie wurden zu Unrecht verurteilt.
Mit den nach 1945 gefällten Urteilen mittels §175/175a und der Beibehaltung der NS-Fassung des § 175/175a bis 1969 hat die Bundesrepublik Deutschland schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen.
Erst im Sommer 2017 wurden diejenigen Urteile aufgehoben, die zwischen 1945 und 1969 nach den Paragraphen 175/175a in der Nazifassung gefällt worden waren sowie die Urteile, die zwischen 1969 und 1994 verhängt wurden. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit den Urteilen nach 1945 schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Aufhebung der Urteile kam und kommt für die meisten Betroffenen, die inzwischen verstarben, und für deren Angehörige, Familien und Freunde zu spät.
Presse aktuell
Zu den Stolpersteinen für Fritz Goltermann und Willi Schlüter
Am letzten freiwilligen Wohnort in Bochum wurden am Dienstag, den 14. Juni 2022 in der Kronenstraße 41 in Höhe des Cafe Mascha zwei Stolpersteine zur Würdigung von und Erinnerung an Fritz Goltermann und Willi Schlüter verlegt.
Zum gemeinsamen Wohnort in der Kronenstraße 47 gab Fritz Goltermann in einem Polizeiverhör am 23. Nov. 1936 zu Protokoll:
Auch Willi Schlüter wurde von der Polizei als Beschuldigter verhört und gab am 21. November 1936 an:
Seit dem 12. August 2021, dem Geburtstag von Gerhard Krebs (Jg. 1907) liegt an gleicher Stelle der Stolperstein zur Erinnerung an Gerhard Krebs. Neben den Stolperstein für Krebs wurde der Stolperstein für Theodor Brockmann am 14. Dezember 2021 verlegt.
Die ehemalige gesamte Häuserzeile einschließlich des Wohnhauses Kronenstraße 47 wurde im zweiten Weltkrieg zerstört. An dieser Stelle ist im Jahr 2020 ein mehrteiliger, neuer Wohnkomplex entstanden, u.a. ein genossenschaftliches Mehrgenerationen-Projekt.
Die Patenschaft für den Stolperstein zur Erinnerung an Fritz Goltermann hat der Bundestagsabgeordnete Max Lucks (Bündnis 90 / Die Grünen, Bochum) übernommen. Die Patenschaft für den Stolperstein zur Würdigung von Willi Schlüter hat die BOGESTRA mit deren Netzwerk der schwulen, lesbischen bisexuellen, Trans*, Inter* und queeren Mitarbeitenden übernommen. (BOGESTRA, Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG, der letzte Arbeitgeber des Vaters von Willi Schlüter)
Forschung und Bericht zu den Lebens- und Verfolgungswegen von Fritz Goltermann und Willi Schlüter stammen von Jürgen Wenke.