7. Juni 2024: Die bundesweit erste STOLPERSCHWELLE für verfolgte Homosexuelle
Das Bild zeigt die STOLPERSCHWELLE in neuen Zustand vor dem Einbau ins Gehwegpflaster.
Film / Presse / Radio
Anmerkung: Im dem obigen Filmbeitrag „STOLPERSCHWELLE – Queer Demo“ zitiert die Bürgermeisterin Gaby Schäfer einen Briefanfang aus dem Jahr 1937. Den Wortlaut des Briefes und die Quelle des Briefes finden Sie rechts weiter unten auf dieser Seite.
Bildarchiv und Zeitdokumente
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Die STOLPERSCHWELLE: Gruppenbezogener Erinnerungsort am Husemannkarree in Bochum
Während Stolpersteine personenbezogene Erinnerungsorte an die NS-Verfolgung sind und in der Regel an den letzten freiwilligen Wohnorten der verfolgten Personen verlegt werden, sind STOLPERSCHWELLEN gruppenbezogene Erinnerungsorte, z.B. Orte der Zwangsarbeit, Sammelorte für die Deportation ganzer Gruppen, usw.
Beispiele für STOLPERSCHWELLEN: In Gelsenkirchen-Buer liegt eine STOLPERSCHWELLE vor dem Polizeigefängnis im Polizeipräsidium (2019) zur Erinnerung an die zahllosen Zwangsarbeiter, die dort eingesperrt waren. In Bochum gibt es eine STOLPERSCHWELLE am ehemaligen Standort eines Zwangsarbeiteraußenlagers des Konzentrationslager Buchenwald (2018) und im Bochumer Appolonia-Pfaus-Park (2022) eine STOLPERSCHWELLE für Sinti und Roma, die aus Bochum in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurden.
Homosexuelle Männer gehörten jahrzehntelang nach 1945 zu den absichtlich vergessenen Opfern der NS-Verfolgung.
Eine genaue Zahl ist nicht bekannt. Fest steht, dass die Leidenswege in den meisten Fällen an den Orten der Landgerichte einen Ausgangspunkt hatten. Der Strafrechtsparagraph 175 aus dem Jahr 1872 verfolgte homosexuelle Kontakte, d.h. gleichgeschlechtlich liebende Männer wurden staatlich mittels Strafrechts verfolgt, wenn sie mit einem anderen Mann Sex hatten. Die Nationalsozialisten verschärften 1935 den Strafrechtsparagraphen 175 durch den neu eingeführten §175a. Nunmehr waren auch Küsse, Kontaktaufnahme, Liebeserklärungen, Berührungen, aber auch Denunzierungen durch Nachbarn, durch Familienangehörige und/oder Arbeitskollegen usw. schon ausreichend für Ermittlungen durch die Polizei, für Verhöre durch die Gestapo, für Anklagen vor Gericht durch die Staatsanwaltschaften und eine anschließende Verurteilungen durch Richter in den Strafkammern der Landgerichte.
Nach voller Verbüßung von Gefängnis- oder Zuchthausstrafen wurden viele männerliebende Männer nicht in Freiheit entlassen, sondern von der Polizei in Vorbeugehaft genommen – was bedeutete, dass Sie ohne Gerichtsbeschluss und ohne weitere Verurteilung in ein Konzentrationslager deportiert wurden, z.B. nach Buchenwald bei Weimar, Dachau bei München, Sachsenhausen bei Berlin, Neuengamme bei Hamburg, Flossenbürg in Bayern/Oberpfalz, Natzweiler im Elsass, Mauthausen bei Linz in Österreich, nach Ausschwitz, usw.
Viele homosexuelle Männer, die alle im KZ den Rosa Winkel als Diskriminierungsmerkmal auf der Kleidung tragen mussten, starben an den Torturen der Zwangsarbeit im Lager, den dortigen schlechten hygienischen Bedingungen, an Unterernährung oder an den Folterungen durch die Wachmannschaften der SS. Selbsttötungen waren für einige Männer der Weg, um den Qualen nicht länger ausgesetzt zu sein.
Der Text der STOLPERSCHWELLE:
VON HIER AUS
LANDGERICHT BOCHUM 1933 – 1945
IM GEDENKEN AN DIE HOMOSEXUELLEN OPFER
AUSGEGRENZT, DENUNZIERT, VERHAFTET, VERHÖRT, MISSHANDELT, VERURTEILT
HIER BEGANN FÜR VIELE MÄNNER DER WEG IN DEN TOD
Bildergalerie von der Verlegung der STOLPERSCHWELLE:
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Ein besonderer Dank an die Mitarbeiter der Stadt Bochum, die die STOLPERSCHWELLE sicher mit Steinen umfasst haben.
Vergessen werden oft diejenigen engagierten Menschen, die bei den vielen Stolpersteinverlegungen oft die handwerkliche Arbeit an der Verlegestelle vorbereiten und durchführen – nicht nur in Bochum. Bei allen Tätigen möchte ich mich bedanken für ihre sorgfältige Leistung und den Einsatz. Bei der STOLPERSCHWELLEN-Verlegung am 7.6.2024 waren drei Mitarbeiter der Stadt Bochum dabei. Zwei kurze Video-Ausschnitte zeigen ihr professionelles, handwerkliches Geschick. Eine Mitarbeiterin des Presseamtes der Stadt Bochum beschrieb die Verlegung so: „Ich war persönlich sehr froh, dass ich dabei sein durfte. Es war ein sehr berührender Termin. (…) Ganz am Ende hat mich eine Sache auch nochmal ganz besonders und vor allem auch unerwartet emotional angefasst. Die fast zärtlich an mutende Art, wie die drei Männer von der Stadt die Schwelle sicher mit Steinen umfasst haben. Die Bewegungen waren so bewusst und so fließend und so bedacht. Ich musste fast an ein Stück von Pina Bausch denken im Moment…“
Mein Dank gilt auch Sabine Olier, die sowohl die Fotos von der STOLPERSCHWELLEN-Verlegung gemacht hat also auch die nachfolgenden Kurzfilme:
Jürgen Wenke
Ein Zitat aus der Rede der Bochumer Bürgermeisterin Gaby Schäfer
Bei der Verlegung der STOLPERSCHWELLE sprach auch die Bürgermeisterin Gaby Schäfer. Ich hatte sie gebeten, einen Ausschnitt aus einem Brief aus dem Jahr 1937 vorzulesen. (Sie finden diesen Ausschnitt im Filmbeitrag „STOLPERSCHWELLE Queer demo“ von Alexander Brauer, siehe rosa Button links). Jürgen Wenke
Hier folgt das Originalzitat (mit einer Auslassung) im Wortlaut:
14.Dezember 1937
Meine lieben Eltern,
Ihr werdet sehr erschrocken sein, als Ihr gehört habt, daß ich verhaftet bin. Es ist mir nachgewiesen worden, daß ich mich, als ich noch 16 Jahre alt war, wegen § 175 vergangen habe. Ich hatte mich damals in inneren Kämpfen selber wieder hoch gebracht und auch mit dem Jungen darüber gesprochen. Ich glaubte, mich durch unermüdliche Arbeit an mir selber wieder rein gewaschen zu haben.
Aber jetzt, wo diese ekelhafte Sache vor Gericht angekommen ist, muß ich meiner Bestrafung entgegen sehen. Ob ich im Heer weiterdienen kann, weiß ich noch nicht.
Ich bitte vor allem Dich, Mutter, mir zu verzeihen.
Um mich müßt Ihr jetzt nicht besorgt sein. Erzählt bitte den Geschwistern nichts davon, außer Inge. (…) Euer Sohn Hans
Schickt mir bitte eine Kleinigkeit und Bücher an das Amtsgerichtsgefängnis Stuttgart.
Es ist der Brief von Hans Scholl (Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“) an seine Eltern. Zitiert nach dem Buch des Autors Robert M. Zoske „Flamme sein!“ Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biographie, Verlag C.H. Beck, München 2018. Seite 83
Ein Interview mit dem Autor Zoske findet sich auf dieser Homepage unter dem Button Literatur.
Zwei Einzelschicksale: Zwei Todesfälle im Bochumer Gerichtsgefängnis: Zwei Stolpersteine: Eine Straßenbenennung: Hermann Hußmann und Michael Weyerer
Das Bochumer Justizzentrum, das im November 1944 durch Kriegseinwirkungen weitestgehend zerstört wurde, war nicht nur „Schreckensort“ für schwule Männer, weil sie dort nach Anklagen der Staatsanwaltschaft gemäß §§ 175 und 175a Reichsstrafgesetzbuch und durch Richtersprüche zu Gefängnis- oder Zuchthausstrafen verurteilt wurden und der weitere Verfolgungsweg für viele in ein Konzentrationslager führte, sondern das Justizzentrum war auch Sterbeort für zwei dieser vielen Männer.
Der Bergmann Hermann Hußmann wurde vor Prozessbeginn im Jahr 1943 in das Untersuchungs-/Gerichtsgefängnis überstellt, das sich im Gebäudekomplex des Justizzentrums in der ABC-Straße befand. Noch bevor es zum festgesetzten Verhandlungstermin am 31. Mai 1943 kam und der damit absehbaren Verurteilung mit anschließender Sicherungsverwahrung, nahm sich Hermann Hußmann im Gerichtsgefängnis am 11. Mai 1943 das Leben.
Für Hermann Hußmann wurde im Jahr 2019 ein Stolperstein verlegt an seinem Wohnort in Bochum-Grumme und eine Straße am Rand der Bochumer City nach ihm benannt. Die Hermann-Hußmann-Straße befindet sich in unmittelbarer Nähe der Bochumer Fiege-Brauerei und auf der Rückseite des neu erbauten Justizzentrums (2018) am Ostring in Bochum, welches das alte Justizzentrum an der Viktoriastraße ersetzte.
Das ehemalige Justizzentrum war auch der Todesort des Bochumer Bergmannsohnes Michael Weyerer. Der geistig behinderte Mann (Jg. 1904) war, obwohl als nicht zurechnungsfähig eingeschätzt, verhaftet worden und saß in U-Haft, weil er mit einem jungen Mann beim gemeinsamen Onanieren erwischt wurde. Das Gerichtsverfahren endete im Oktober 1944 ohne Verurteilung, jedoch sollte lt. Beschluss Michael Weyerer in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen werden, was mit großer Wahrscheinlichkeit seinen Tod durch einen Euthanasiemord bedeutet hätte.
Doch soweit kam es nicht: Bevor er in eine Heil- und Pflegeanstalt verbracht werden konnte, traf das Justizzentrum am 4.November 1944 – wie die gesamte Bochumer Innenstadt – der schwerste Bombenangriff des Krieges auf Bochum. Dabei starb auch Michael Weyerer in seiner Zelle im Justizzentrum.
Für Michael Weyerer wurde im Jahr 2013 in Bochum-Hofstede ein Stolperstein verlegt.
Zu der STOLPERSCHWELLE für verfolgte Homosexuelle als Erinnerungsort in Bochum:
Die STOLPERSCHWELLE wurde vom Künstler Gunter Demnig am Freitag, den 7. Juni 2024 um 9 Uhr in Bochum, Viktoriastraße/Husemannplatz verlegt. Dort wurde im Jahr 2023 das neu errichtete Wohn- und Geschäftszentrum „Husemannkarree“ eröffnet. In dem großen Neubaukomplex sind auch Teile der Stadtverwaltung Bochum und ein Hotel ab 2024 zu finden. In der NS-Zeit waren an dieser Stelle die Gebäude des Bochumer Landgerichtes und des Amtsgerichtes sowie Gerichtsgefängnis und Sitz der Staatsanwaltschaft. Dieser historische, große Gebäudekomplex aus mehreren Einzelgebäuden wurde im November 1944 durch Kriegseinwirkungen weitestgehend zerstört. Für die Idee einer STOLPERSCHWELLE an dieser Stellte konnte ich den Künstler Gunter Demnig gewinnen. Im Dialog mit Gunter Demnig wurde der endgültige Text der Inschrift in die STOLPERSCHWELLE entworfen.
Gedankt sei dem Künstler für seine Arbeit. Gedankt sei außerdem den Patinnen und Paten der STOLPERSCHWELLE für Ihre Unterstützung, die durch ihre zahlreichen Spenden die Finanzierung und damit Realisierung ermöglichten. Es sind dies zahlreiche Privatpersonen aus den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Thüringen, und Sachsen-Anhalt und sowie aus den Niederlanden. Außerdem hat als Institution die Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnengesellschaft (Bogestra) als LGBTIQ-freundliches und vorbildliches Unternehmen das Projekt maßgeblich unterstützt.
Gedankt sei auch dem Bochumer Stadtarchiv und dem Bauamt der Stadt Bochum, die die Planung und Umsetzung der Verlegung übernommen haben. Gedankt sei auch der Bildstelle der Stadt Bochum für die Überlassung der historischen Fotos des früheren Gerichtsstandortes und der Kriegszerstörungen des damaligen Justizzentrums.
Jürgen Wenke, Initiator